Rezension: Mausfeld dechiffriert den Wertewesten und den «demokratischen Theaterstaat»
In seinem neuen Buch bringt Professor Rainer Mausfeld das moralisch hoch aufgeladene Scheindemokratiekartenhaus des sogenannten Wertewestens zum Einsturz. Prädikat: lesenswert.
Nur wenige Autoren im deutschsprachigen Raum haben in den letzten Jahren eine so schonungslose Analyse der Herrschaftsstrukturen abgeliefert, die für die meisten Menschen verborgen sind. Täglich propagieren Politiker des „Wertewestens” den Kampf für oder um unsere Demokratie. Auch von einer Krise der Demokratie ist häufig die Rede, während die Vormachtsstellung des Westens zu wackeln scheint. In seinem letzten umfassenden Werk «Hybris und Nemesis» nahm der Kognitionsforscher Rainer Mausfeld die Evolution des Demokratiebegriffs unter die Lupe und machte deutlich, „wie westliche Machteliten ihre Machtansprüche hinter der moralistischen Maske eines Kampfes für ‚zivilisatorische Werte‘ verbergen”. In seinem neuen Buch beschäftigt er sich mit der Frage, ob es sich bei den aktuellen globalen Verwerfungen um die «letzte Krise des Westens» handelt. Der Titel seines im Westend Verlag erschienenen Buches lautet «Hegemonie oder Untergang». In gewohnter Mausfeld-Manier und im klaren Gegensatz zur weit verbreiteten westlichen Propaganda der eigenen Überlegenheit gegenüber dem Rest der Welt bleibt vom Wahrheitsgehalt des sogenannten Wertewestens nicht viel übrig. Aufgrund seiner sprachlichen Brillanz zitiere ich in der folgenden Rezension einige sehr bedeutsame Passagen aus Mausfelds neuem Buch.
Der «demokratische Theaterstaat»
In das Themenfeld der Demokratie einführend stellt Mausfeld frühzeitig und deutlich klar:
«Da es Demokratie in diesem einzigen Sinn, der diese Bezeichnung verdient, in unserer Epoche nicht gibt, wäre die Behauptung ihrer Krise unsinnig. Die gegenwärtige schwere Krise des Westens kann also, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, keine Krise der Demokratie sein.»
Laut Mausfeld bedeutete Demokratie im ursprünglichen Sinne die radikalste Form der Vergesellschaftlichung von Macht. Die heute oft beworbene Demokratie hat mit diesen ursprünglichen Ansätzen jedoch wenig bis nichts mehr zu tun. Ursprünglich zielte die Demokratie darauf ab, die Anhäufung von Macht und deren Missbrauch zu verhindern. Mausfeld gelingt es in seinem Buch auf wohltuende Weise, den Blick der Lesenden weg von den alltäglichen Aufführungen des eigentlich belanglosen Demokratietheaters – inklusive der Politikdarsteller:innen – und hin zu den tatsächlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen zu lenken.
«Mit der Erfindung der »kapitalistischen Demokratie« hat der Westen erkannt, dass die Erzeugung einer Illusion von Demokratie die kostengünstigste und wirksamste Form einer Revolutionsprophylaxe und einer Stabilisierung herrschender Machtverhältnisse ist. Eine wirksamere Form der Revolutionsprophylaxe als die Illusion einer politischen Selbstbestimmung lässt sich kaum denken.»
«Vielmehr ist die Demokratiesimulation im »demokratischen Theaterstaat« so perfektioniert worden, dass sie dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geradezu als Realität von Demokratie erscheint.»
Von wegen Wertewesten
Mausfeld bezeichnet diese Herrschaftsstrukturen als hochgradig parasitäre Lebensform westlicher Machteliten, «die sie auf Kosten der übrigen Welt und der schwächsten Teile ihrer eigenen Bevölkerung pflegen». Ein Kapitel seines Buches widmet sich genau dieser Lebensweise und untermauert sie mit konkreten, äußerst verstörenden Zahlen. Beispielhaft sei hier eine von ihm zitierte Studie aus dem Jahr 2022 erwähnt, die
«zeigt, dass die reichen Länder den armen Ländern zwischen 1990 und 2015 242 Billionen Dollar (in Preisen von 2010) entzogen haben, was etwa einem Viertel des Einkommens des Globalen Nordens entspricht. Für den Globalen Norden sind die Gewinne so groß, dass sie in den letzten Jahrzehnten die Rate des Wirtschaftswachstums überstiegen haben. In anderen Worten, das Nettowachstum im Norden beruht auf einer Aneignung aus dem Rest der Welt.»
Die gegenwärtige Krise des Westens
Die vermeintliche durch die westliche Machtelite verkündete Bedrohung der Demokratie durch Feinde der Demokratie im Innen und Außen ist laut Mausfeld ein Scheidepunkt,
«an dem also unverhüllt die Wahrheit über ein Problem offen zutage tritt. Die inneren Widersprüche des Westens tragen ein gewaltiges Krisenpotential in sich. Die Wahrheit, die nun in der gegenwärtigen Krise wieder unverhüllt sichtbar wird, ist der gewaltbasierte Hegemonialanspruch des Westens, den dieser seit den Tagen des Kolonialismus hinter moralistischen Phrasen zu verschleiern sucht.»
In seinem neuen Buch widmet sich Mausfeld als ein prominentes und aktuelles Beispiel des gewaltvollen Vorgehens des „Wertewestens” auch dem Vernichtungskrieg Israels in Gaza. Laut Mausfeld trägt:
«Deutschland also, ebenso wie die USA, durch Finanzhilfe, Waffenlieferungen und durch eine ausdrückliche politische Legitimierung eine faktische Mitschuld an diesem Völkermord.»
Dieser Krieg und der damit verbundene Umgang mit dem Völkerrecht sind beispielhaft für einen Widerspruch, der umso deutlicher wird, je länger die Krise des Westens andauert. Mausfeld beschreibt die Kluft zwischen der verkündeten regelbasierten Ordnung und der Realität wie folgt:
«Der Westen stellt universelle zivilisatorische Normen auf, die er selbst laufend verletzt und die er für sein eigenes Handeln nicht als gültig anerkennt. In jahrhundertelanger Kontinuität seiner militärischen und ökonomischen Gewalt gegen schwächere Völker und Nationen begeht der Westen eine endlose Folge von Zivilisationsbrüchen.»
Das Völkerrecht erscheint laut Mausfeld insbesondere mit Blick auf Gaza als «bloße machtpolitische Dispositionsmasse.«
Neben den offensichtlichen Kriegsschauplätze findet gleichzeitig und seit Jahrzehnten eine subtilerer Form der Gewalt statt: Dabei handelt es sich um «Kollektivstrafen gegen die Zivilbevölkerung der betroffenen Länder» in Form von Sanktionen.
«Zu den Methoden brutalster Gewaltausübung gegen die Zivilbevölkerung gehört auch die Erzeugung von humanitären Katastrophen durch Sanktionen. […] Der politische Vorteil von Sanktionen liegt in »kapitalistischen Demokratien« besonders darin, dass ihre menschlichen und zivilisatorischen Folgen für die Bevölkerungen westlicher Staaten nahezu unsichtbar sind.[…] «Mehr als 60 Prozent aller armen Länder unterliegen irgendeiner Art von US-Sanktionen.»
Der Westen im Endspielmodus
Ein Kapitel des Buches mit dem Titel «Der Westen im Endspielmodus» befasst sich unter anderem mit dem Krieg in der Ukraine. Eine durch die NATO aufgerüstete Ukraine könnte als «Waffe zur Zerstörung Russlands» eingesetzt werden und somit den Hegemonialansprüchen der USA dienen. Mausfeld kommentiert dieses imperiale Vorgehen wie folgt:
«Dieser Wunschplan des Westens ist jedoch, wie gegenwärtig immer deutlicher erkennbar wird, militärisch wie ökonomisch gescheitert. Genau darin liegt der Grund für die schwere Krise des Westens. Ihm ist bewusst geworden, dass es in der Ukraine mittlerweile um sehr viel mehr geht als um das Schicksal der Ukraine oder um einen Rückschlag für den globalen Hegemonieanspruch der USA. Der Westen hat militärisch, ökonomisch und ideologisch in diesen Konflikt in einem solchen Maße überinvestiert, dass er ein Scheitern kaum überstehen wird. Es geht für ihn nun also wirklich um alles.»
Doch diese Krise führt bei den Verantwortlichen nicht etwa zu einem Umdenken. Mausfeld diagnostiziert den Machteliten des «Wertewestens» folgenden Umgang mit der von ihm erkannten «Zeitenwende».
«Diese konnte natürlich keinesfalls bedeuten, dass der Westen von seinen historisch tief verwurzelten hegemonialen Ansprüchen abrückte und sich mit einem geringeren Maß der Ausplünderung schwächerer Länder begnügen würde. Vielmehr bedeutet sie in der Tradition der Anwendung organisierter Gewalt des Westens eine massive weitere Vergrößerung dieser Gewalt – also vor allem militärischer und ökonomischer Gewalt.»
Genau dafür braucht es weitere Aufrüstung, ein wachsendes NATO-Budget, Putin als permanente Bedrohung und folgerichtig zukünftig 44 % des deutschen Bundeshaushalts, also 215 Milliarden Euro, als Beitrag für die NATO im Kampf – Sie ahnen es – für unsere Demokratie und die Verteidigung der westlichen regelbasierten Ordnung.
Der Kampf um das öffentliche Bewusstsein
Als Psychologe und ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung ist Mausfelds Spezialgebiet die Wechselwirkung zwischen Psyche und der unter anderem von der NATO großflächig angewandten «Kognitiven Kriegsführung». Mausfeld spricht in diesem Zusammenhang von «ideologischer Macht» und versteht darunter «die Macht, die für eine Stabilisierung von Macht relevanten sinnstiftenden Denkkategorien, Deutungszusammenhänge und Rahmenerzählungen systematisch zu beeinflussen und zu kontrollieren, mit denen sich Menschen ein Bild von ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit machen».
Die Bedeutung dieser Form von Macht kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nur wenn Menschen den aktuell in den Medien stark präsenten Feindbildern Glauben schenken und sich dadurch auch emotional steuern lassen, ist es möglich, Zustimmung für Kriegstüchtigkeit – beispielsweise gegen Viren oder andere Staaten – in der Bevölkerung zu bewirken. Dabei darf um keinen Preis sichtbar werden, dass es sich bei den propagierten Krisen oder Feinden unserer Demokratie eventuell um geopolitische Agenden oder Symptome des Niedergangs eines kranken, neoliberalen Wirtschaftssystems handelt.
«Zur Verteidigung seiner Macht muss der Westen daher mit nie zuvor bekanntem Aufwand versuchen, global die tatsächlichen Kausalitäten, auf denen seine Macht beruht, durch eine massenmedial vermittelte Manipulation und tiefgreifende Formung des öffentlichen Bewusstseins zu verschleiern. Dies ist ihm in den vergangenen Jahren in einzigartiger Weise gelungen.»
Die Massenmedien sind als Werkzeug für die Durchsetzung ideologischer Macht unerlässlich und müssen daher eingebettet sein. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Informiertheit der Bürger zu fördern, sondern vorgegebene Denkmuster zu verbreiten und damit den Machterhalt zu ermöglichen.
«Die Aufgabe von Massenmedien in »kapitalistischen Demokratien« besteht, wie schon in ihren Anfängen ausdrücklich festgestellt wurde, gerade darin, bei den Bürgern eine Illusion der Informiertheit zu erzeugen und zugleich Gefühle der Unsicherheit, Angst und gesellschaftlichen Ohnmacht zu wecken, um sie auf diese Weise in einen Zustand politischer Apathie zu versetzen und sie zu politischen »ZuschauerKonsumenten« zu machen. »
Ein „demokratischer Theaterstaat”, der eine Scheindemokratie inszeniert, die von den Menschen, die sich ohnmächtig fühlen, passiv konsumiert wird – bis auf die Abgabe ihrer Stimme in die Wahlurne wird sie nicht gestört. Eine Inszenierung, die den ursprünglichen Ideen egalitärer Demokratien nicht weiter entfernt sein könnte.
Die schleichende Entzivilisierung von Gewalt
Am Ende seines Buches fragt sich Mausfeld, ob die «Zivilisierung von Gewalt» heutzutage noch eine Chance hat. Angesichts des von Mausfeld brutal dargestellten Ausmaßes von Gewalt, das sich kaum vorstellen lässt, scheint Hoffnung fehl am Platz.
Doch Mausfeld sieht die Lage nicht aussichtslos. Veränderungen sind laut Mausfeld nur dann wirksam möglich, wenn das Denken das von Massenmedien vorgegebene «ideologische Gewölbe» verlässt, um eine Art Außenstandpunkt auf das Geschehen zu gewinnen. Mausfeld nennt es einen «überpersönlichen Standpunkt» – ein nicht durch kognitive Kriegsführung verklärter Blick auf die Dinge, sozusagen.
Angesichts der enormen Einflussmöglichkeiten der Machteliten können notwendige Veränderungen nur gemeinsam wirksam werden. Die zunehmende Vereinzelung sowie die Spaltung der Gesellschaft in ideologische Lager verhindern jedoch konkretes, themenbezogenes Handeln in Einigkeit.
»Unsere Befähigung zu einer solidarischen Kollektivität, wie sie Teil unserer natürlichen Beschaffenheit als soziale Wesen ist, ist jedoch in kapitalistischen Gesellschaften weit gehend blockiert worden.«
Mausfeld zufolge tragen die Menschen die für einen Fortschritt hin zu einer herrschafts- und gewaltfreieren Gesellschaft notwendigen Ressourcen in sich.
«Zu diesen natürlichen Ressourcen unserer Beschaffenheit gehören die im Menschen angelegten moralischen Sensitivitäten, die Befähigung zu einem Andersdenken des Bestehenden sowie die Befähigung zu einer kollektiven Entwicklung gesellschaftlicher Normen. Wir verfügen also über eine reiche natürliche Ausstattung, die uns befähigt, Vorstellungen von einer menschenwürdigen Gesellschaft zu entwickeln und sie konkret werden zu lassen. Dabei hilft uns eine zentrale Eigenschaft des menschlichen Geistes. Der Mensch verfügt als Gattungswesen über ein grenzenloses schöpferisches Potential – und damit über eine einzigartige Kreativität und Flexibilität für ein kulturelles Erfinden und Erproben neuer gesellschaftlicher Arrangements.
Glücklicherweise gibt Mausfeld keine Anleitungen, die Menschen dazu verleiten könnten, Verantwortung an vermeintliche Experten abzugeben. Mit seinem Werk erinnert er jedoch an die Macht und die Gestaltungsmöglichkeiten einer aufgeklärten, selbstbestimmten und gut informierten Bevölkerung. Die Entfaltung dieser Kräfte birgt das Potenzial, eine Demokratie zu erschaffen, die der ursprünglichen Leitidee der Vergesellschaftlichung von Macht folgt. Nur dann wäre es «unsere Demokratie» und keine von Machteliten als Herrschaftsinstrument missbrauchte Scheindemokratie mehr.
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Russland und China oder die Hamas erheben selbstverständlich keinerlei Hegemonialansprüche [/zyn]
Wessen man sich permanent vergewissern muss - das besitzt man nicht (wer reich & gesund ist, ruft es sich nicht morgens im Spiegel zu). Wer ach wie frei in unserer Demokratie dreimal täglich einnehmen muss...